Interview mit Elena Havlicek
Text: Zélie Schaller
«Warum nicht eine Schlammwoche einführen?»
Elena Havlicek, promoviert in Ökologie und Bodenkunde, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundesamt für Umwelt. In einem Gespräch betont sie die gesellschaftliche Rolle des Bodens und schlägt Lehrpersonen und ihren Schulkindern einige Aktivitäten vor, um diesen verborgenen Lebensraum zu entdecken.
Frau Havlicek, legen wir erst die Grundlagen fest. Was ist Ihre Definition von Boden?
Der Boden ist der obere, lebendige Teil der Erdkruste – eine Welt der Symbiosen, in der Pflanzen mit Bakterien und vor allem mit Pilzen zusammenleben. Ohne Leben gibt es keinen Boden, ohne Boden kein Leben.
Sie sind wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Boden des BAFU. Schutz, Biologie und Biodiversität der Böden sind Ihre Fachgebiete. Worin genau besteht Ihre Arbeit?
Im BAFU entwickeln wir Instrumente zum Schutz des Bodens und helfen bei ihrer Umsetzung. Beispielsweise ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Erosion verhindert werden muss, die die Bodenfruchtbarkeit langfristig gefährdet. Aber wie lässt sich das erreichen? Dazu arbeiten wir mit den Kantonen, Agronominnen und Landwirten zusammen, um herauszufinden, was verbessert werden kann. Die Kommunikation ist ebenfalls ein wichtiger Teil meiner Arbeit: Wenn wir nicht über Böden informieren, wie sollen wir dann erreichen, dass sie geliebt und geschützt werden? Ich bin übrigens die Ansprechperson für Böden auf internationaler Ebene. Böden sind unbeweglich, aber die Auswirkungen ihrer Bewirtschaftung – etwa auf die Regulierung von Treibhausgasen – gehen weit über die Landesgrenzen hinaus. Etwa die Hälfte unserer Nahrungsmittel stammt von Böden im Ausland. Böden müssen daher überall auf unserem Planeten geschützt werden.
Arbeiten Sie momentan an einem zentralen Thema, das Lehrpersonen und Schulen interessieren könnte?
Wir haben zusammen mit einem spezialisierten Unternehmen die Lernwebsite bodenreise.ch entwickelt, die eine Reise in den Untergrund anbietet und immer wieder News publiziert. Die neuste Nachricht ist dem faszinierenden Leben von Regenwürmern gewidmet. Schauen Sie sich das Foto der Milbe an! Hat sie nicht einen krassen Kopf? Man muss Kindern diese kleinen Tiere vorstellen. Indem sie ihr Wissen erweitern, werden sie für den Schutz des Bodens und der Lebewesen, die darin leben, sensibilisiert.
Wie steht es um die Böden in der Schweiz?
Laut einer 2017 publizierten BAFU-Studie zu diesem Thema ist der Boden eine nur wenig gewürdigte Ressource, die mehreren Belastungen ausgesetzt ist. Die Studie beruht aber auf fragmentierten Daten. Es fehlt ein Gesamtüberblick. Hier wartet eine grosse Aufgabe auf uns: die Kartierung der Böden.
Welche Themen in Bezug auf den Bodenschutz liegen Ihnen am Herzen?
Vor allem jene rund um die städtischen Böden. Man muss die Böden der Stadt öffnen, die Stadt für die Böden öffnen. Ein von Kies und Beton umgebener Baum reicht nicht aus. Böden und Vegetation speichern Wasser, das verdunstet und die Atmosphäre kühlt: Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Verminderung von Hitzeinseln in Zeiten der globalen Erwärmung. Und weil 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung in Städten leben, ist dies ein hervorragendes Mittel, um die Menschen für den Wert und die Empfindlichkeit der Böden zu sensibilisieren.
Man kennt die ökologischen Funktionen des Bodens, seine gesellschaftliche Rolle hingegen weniger. Worin besteht sie?
Boden und Leben sind untrennbar miteinander verbunden. Der Boden ist ein Träger und Speicher: Er ist die Oberfläche, auf der wir leben und bauen, die Grundlage unserer Landschaften. Der Boden speichert aber auch Informationen über unsere Vergangenheit. Er birgt nicht nur das Gedächtnis der Natur wie etwa Pollen in sich, sondern auch Erinnerungen an unsere Vorfahren, die darin begraben sind. Er ist zugleich ein Milieu des Lebens und des Todes.
Sie haben sich schon früher mit Böden und Gesellschaften beschäftigt. Ganz kurz gesagt: Welche Verbindungen sehen Sie zwischen diesen beiden Elementen?
Terre, Terra, Tiara, Erde: Der Planet, den wir bewohnen, wird in allen vier Landessprachen als Erde bezeichnet – als Boden! Das zeigt die untrennbare Verbindung zwischen Böden und Gesellschaft klar auf. Man denke nur daran, dass 95 Prozent unserer Nahrung direkt aus dem Boden stammen: Eine Gesellschaft ohne Boden kann keine nachhaltige Gesellschaft sein.
Nehmen wir den Aspekt des Bodens und der Wurzeln. Wo sind Ihre Wurzeln, Frau Havlicek? Inwiefern bestimmen sie Ihr Werte- und Glaubenssystem? Wie wichtig sind Wurzeln in Bezug auf Ökologie und Nachhaltigkeit?
Ich wurde entwurzelt (ich bin halb Tschechin, halb Slowakin), habe aber meine symbolischen Wurzeln in der Schweiz neu geschlagen. Menschen, die ihren Lebensort ändern mussten – den Kanton, das Land oder den Kontinent, die Sprache oder die Gewohnheiten –, wissen, dass die Anpassung an die neuen Bedingungen, eine neue Verwurzelung also, eine Form von Resilienz darstellt. In der Ökologie sind die Wurzeln der verborgene, aber lebenswichtige Teil unserer Wälder, Felder und Bergweiden. Um in unseren Lebensräumen und in unserer Gesellschaft mehr Nachhaltigkeit zu erreichen, müssen wir uns an unsere Wurzeln im doppelten Sinne erinnern und ihnen Sorge tragen.
Von den Burjaten am Baikalsee bis zu den indigenen Volksgruppen am Amazonas: Alle Völker sind (oder waren) mehr oder weniger eng mit dem Boden verbunden. Warum haben wir in der westlichen Welt diesen Kontakt verloren?
Heute spielen vor allem im städtischen Umfeld nur noch wenige Kinder auf und mit dem Boden. Sie sehen nicht, wo Karotten wachsen. Uns fehlt die physische Beziehung zum Boden, die diesen Kontakt aufrechterhalten würde.
Umweltverschmutzung, Entwaldung, intensive Bewirtschaftung oder auch die Siedlungsentwicklung zehren an den Böden, die für die Gesellschaft von unschätzbarem Wert sind. Weshalb legen die Schulen nicht mehr Wert auf die Bodenkunde?
Das frage ich mich auch! Diese Situation widerspiegelt unsere gesellschaftlichen Werte. Solange sich die Gesellschaft der Bedeutung des Bodens nicht bewusst ist, wird sie dies auch den Kindern nicht vermitteln. Es gibt zwar eine Entwicklung, aber das braucht Zeit. Ich plädiere für ein positives Bewusstsein: etwa aufzeigen, dass der Boden uns ernährt. Statt Bohnen auf Watte keimen zu lassen, können die Kinder sie auch in Erde anpflanzen.
Wie kann man den Boden entdecken? Wie bei Kindern ein Interesse für diesen Lebensraum wecken?
Einmal begleitete ich meine Tochter, die Lehrerin ist, und ihre etwa 6-jährigen Schülerinnen und Schüler in den Wald. Die Kinder zogen ein paar Pflanzen mit den Wurzeln aus dem Boden und zeichneten sie. Dabei erklärte ich ihnen, dass die Wurzeln die Münder der Pflanzen sind und der Boden ihr Teller. Mit kleinen Lupen beobachteten die Kinder die winzigen Tierchen, die sich in der Erde tummelten. Sehen, anfassen, spüren: Lernen heisst spielen! Und keine Angst haben, sich schmutzig zu machen. Warum nicht eine Schlammwoche einführen?
Was müssen Schülerinnen und Schüler und natürlich auch Lehrpersonen über Böden lernen bzw. wissen?
Dass der Boden lebt und Jahrtausende braucht, um sich zu bilden. Dass seine Funktionen ein gemeinsames Anliegen sind: Klimaregulierung, Hochwasserschutz oder Ernährungssicherheit betreffen die ganze Gesellschaft.
Was würden die Schulkinder – die Bürgerinnen und Bürger von morgen – und die Gesellschaft gewinnen, wenn sie den Boden besser verstehen und mehr darüber wissen würden?
Man liebt, was man kennt, und man schützt, was man liebt. So einfach ist das!
Möchten Sie noch etwas zum Thema Boden ergänzen? Eine besondere Botschaft an die Lehrpersonen richten?
Zögern Sie nicht, sich mit Ihren Schülerinnen und Schülern die Hände schmutzig zu machen: Schauen Sie sich den Boden genau an, riechen Sie ihn, fassen Sie ihn an!
Zum Abschluss eine etwas persönlichere Frage: Haben Sie schon als Kind davon geträumt, den Boden zu erforschen? Und wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Als Kind wollte ich Zoowärterin werden. Aber was gibt es denn Besseres als den Boden, um noch fantastischere Tiere zu sehen als in einem Zoo? Auch wenn Springschwänze viel kleiner sind als Elefanten: Der Boden bietet einen tollen Zugang zu einer nahen Exotik.