Interview mit Dr. Jakub Samochowiec

Text: Daniel Fleischmann für éducation21

«Zukunft ist kein Unwetter, das über uns hereinbricht»

Wie die Zukunft aussehen wird, weiss niemand, aber sie kann radikale Brüche bringen; zudem ist Zukunft etwas, das wir Menschen mit unserem Tun gestalten. Diese zwei Gedanken bilden Grundthesen der Studie «Future Skills». Welche Fähigkeiten brauchen KInder und Jugendliche dafür? Studienautor Jakub Samochowiec gibt Hinweise darauf – und bedauert, dass schönen Worten nur selten Taten folgen.

Jakub Samochowiec, Sie haben vor zwei Jahren in der Studie «Future Skills» erforscht, wie die Zukunft aussieht und was man in der Zukunft können muss. Welche Antworten fanden Sie auf die erste Teilfrage?

Wir können die Zukunft nicht punktgenau voraussagen. Aber wir haben versucht, Geschichten zu sammeln, die über die Zukunft erzählt werden – in Science-Fiction, politischen Statements, Unternehmensvisionen –, und daraus vier Szenarien abgeleitet. Die Zukunft wird Aspekte all dieser Szenarien enthalten, je nach Weltregion, Person oder Situation jedoch in unterschiedlichen Anteilen.

Können Sie diese Szenarien skizzieren?

Im Szenario Kollaps können die komplexen Lieferketten unserer modernen Welt nicht aufrechterhalten werden – aufgrund ökonomischer Krisen, des Klimawandels oder auch von Kriegen und Terrorangriffen. Nationale oder supranationale Organisationen haben an Bedeutung eingebüsst, lokale Gemeinschaften müssen sich in den Ruinen der globalisierten und industrialisierten Welt neu organisieren. Netto-Null nennen wir das Modell, in dem die Hoffnung, den Klimawandel allein mit Fortschritt und Technologie aufzuhalten, verflogen ist. Es braucht einschneidende persönliche Einschränkungen.

Das Szenario Gig-Economy-Prekariat bildet die Verdatung der Arbeitswelt ab. Maschinen erledigen viele Jobs und drängen die Menschen ins Prekariat. Als digitale Tagelöhner buhlen sie um rar gesäte Arbeit. Auch im Szenario Vollautomatisierter KI-Luxus erledigen die Maschinen viel Arbeit. Aber jetzt profitieren alle. Lohnarbeit verliert so an Bedeutung; die Menschen müssen ihrem Leben auf andere Weise Sinn geben.

Das alles klingt aufregend, beängstigend.

Es sind Überzeichnungen. Aber sie machen Aspekte greifbar, welche die Zukunft prägen werden. Manche Entwicklungen sieht man schon heute: Plötzlich sind wir mit Lieferschwierigkeiten konfrontiert, erleben institutionelle Brüche wie den Sturm aufs Kapitol oder werden im Homeoffice von einer Software kontrolliert. Mit unserer Studie wollen wir zeigen, dass Zukunft etwas sein kann, was radikal anders ist als das, was wir kennen – mehr als nur ein bisschen wärmere Sommer und schnelleres Internet.

Eine böse Pointe ist: Kaum war die Studie fertig, brach Corona aus. Uns wäre lieber gewesen, diesbezüglich nicht so schnell recht zu bekommen.

Wie werden sich Arbeit und Arbeitswelt in den vier Szenarien verändern?

Unterschiedlich. Im Szenario Kollaps kehrt die Produktion von Dingen zu uns zurück, wie in Bergamo, als während der Pandemie Intubationsröhren fehlten und man vor Ort begann, sie mit 3-D-Druckern herzustellen. Handwerkliche Berufe gewinnen wieder an Wichtigkeit, oft gehts ums Überleben, Heizen und Essen statt Selbstverwirklichung. Netto-Null beschreibt eine freiwilligere Rückkehr zur Einfachheit: Es gibt weniger zu tun, der Gelderwerb ist nur eine Form des Tätigseins.

Der WWF forderte vor einigen Jahren, dass Menschen weniger arbeiten und dadurch auch weniger Geld haben, um zu konsumieren. Im Szenario Gig-Economy-Prekariat haben die Menschen keine festen Stellen mehr, sondern agieren in Projekten oder befristeten Stellen und werden dabei von Maschinen ausgespäht. Das geschieht bereits bei Essenskurieren und teilweise im Homeoffice. Die gleiche leistungsfähige Technologie wird im KI-Luxus-Szenario produktiv verwendet; sie lässt einfache Arbeiten verschwinden, alle müssen weniger arbeiten.

Welche Fähigkeiten brauchen Kinder und Jugendliche, um auf diese Szenarien vorbereitet zu sein?

Die Schülerinnen und Schüler werden mit rascheren und radikaleren Veränderungen konfrontiert sein, als wir sie erlebten. Um sie zu bewältigen, müssen die Kinder in der Lage sein, flexibel auf sehr unterschiedliche Zukünfte zu reagieren. Future Skills bedeutet aber mehr, als nur zu reagieren. Es bedeutet die Fähigkeit, die Zukunft mitgestalten zu können: Denn Zukunft ist kein Unwetter, das über uns hereinbricht.

Um ein selbstbestimmtes Individuum, aber auch eine selbstbestimmte Gemeinschaft zu werden, muss geübt werden, allein und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Darauf muss man sie in vielen altersgerechten Schritten hinführen. Nötig dafür sind Kompetenzen in den Bereichen des Wissens, des Wollens und des Wirkens, wie wir sie nennen. Wissen besteht aus Grundlagenwissen und der Fähigkeit, neue Dinge zu lernen. Wollen umfasst die Fähigkeit, Bedürfnisse wahrzunehmen und Ziele zu formulieren – sei es für sich persönlich oder für andere Menschen. Im Wirken überwinden wir den Graben zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Dazu gehören praktische Skills, aber auch der Mut, trotz Ungewissheit zu handeln.

Das klingt nach Lehrplan21, wo Kompetenz als eine Summe von Wissen, Können und Wollen begriffen wird.

Das ist sicher ähnlich. Eine Stärke unserer Systematik liegt darin, dass sie einen Kreislauf beschreibt, in dem die drei Kompetenzen aufeinander einwirken.

Die Bertelsmann Stiftung hat anhand von Stellenanzeigen unter­ sucht, welche Skills der Arbeitsmarkt braucht. In drei Viertel der Anzeigen werden mindestens eine Selbstmanagementkompe­ tenz und eine soziale Kompetenz nachgefragt – am häufigsten Einsatzbereitschaft und Teamfähigkeit.

Das wundert mich nicht; fachliche Fertigkeiten reichen nicht mehr aus, um in den Berufswelten des 21. Jahrhunderts zu bestehen. Schule muss die Kinder und Jugendlichen ermutigen, sich Ziele zu setzen und sich dafür einzusetzen; welches diese Ziele sind, kann man nicht durch Grübeln eruieren, man muss sie ausprobieren. Schule muss den Kindern und Jugendlichen auch Gelegenheiten bieten, Neues auszutesten, Einigungsprozesse zu bewältigen und gemeinsam Entscheidungen zu fällen.

In Krisenzeiten greift man auf Routinen zurück – Experimentieren in Gruppen muss also zu einer Routine werden. Aber wissen Sie: Gegen all das wird niemand etwas einwenden. Aber wenn es darum geht, Zeit und Freiräume zu schaffen, um diese Kompetenzen einzuüben, fängt meist der kleinliche Streit um die Stundenpläne an.

Weitere Informationen

Studie «Future Skills»  (PDF, kostenlos)

Dr. Jakub Samochowiec

 

 

 
Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut.

«Experimentieren in Gruppen muss zu einer Routine werden».
    

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