Interview mit Botschafter Jürg Lauber und Klára Sokol

Interview de Jürg Lauber et Klara SokolText: Daniel Fleischmann für éducation21

Interview mit Botschafter Jürg Lauber, Chef der Mission der Schweiz bei der UNO in Genf, und Klára Sokol, Direktorin éducation21

Die UNO- Nachhaltigkeitsziele in der Schule

Im Jahr 2015 verabschiedete die UNO die Agenda 2030; ihren Kern bilden 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung. Jürg Lauber, Chef der Mission der Schweiz bei der UNO in Genf, sagt: «Die Bedeutung dieser Agenda ist sehr weitreichend.» Für Klára Sokol, die sich zusammen mit dem Team von éducation21 mit Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) beschäftigt, ist die Agenda 2030 mehr als ein Themeninput für die Schule. Die Ziele, sagt sie, geben eine Werteorientierung; über die Auseinandersetzung mit ihr entwickle sich die pädagogische Praxis weiter.

Herr Botschafter, können Sie einführend Ursprung, Stellenwert und Zielsetzung der Agenda 2030 beschreiben?

Jürg Lauber: Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung folgen den Millenniumszielen von 2000. Sie sind das Ergebnis von aufwendi­gen Verhandlungen mit allen Mitgliedstaaten der UNO und vielen internationalen und nationalen Partnern. Die Agenda ist sicherlich kein Allheilmittel, das alle Probleme löst. Aber ihre Bedeu­tung ist dennoch sehr weitreichend. Sie bildet den zentralen Referenzrahmen für die UNO und die Länder bei der Aufgabe, die Gesellschaft nachhaltig zu entwickeln. Zwei Dinge sind beson­ders wichtig: Die Ziele bestätigen erstens die Gleichwertigkeit der drei Hauptpfeiler «Sicherheit und Frieden», «Entwicklungs­zusammenarbeit und humanitäre Hilfe» und «Menschenrechte und Völkerrechte», die sich auch im Mandat der UNO wiederfin­den. Keines lässt sich ohne das andere erreichen. Zweitens signalisieren die Ziele, dass alle Länder in gewissem Sinne Entwick­lungsländer – Länder in Entwicklung – sind, auch die Schweiz.

Klára Sokol, auch bei der Gründung von éducation21 waren neben der Umwelt auch die Gesundheit, Demokratie oder Wirtschaft ausdrücklich als Themen einer «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» erwähnt. Haben die UNO-Ziele diese Ausrichtung akzentuiert?

Klára Sokol: Bereits der Brundtland-­Bericht von 1987 führte die Dimensionen Ökologie, Soziales und Ökonomie zusammen. Dieser Gedanke trug dazu bei, dass Anfang der Nullerjahre die soge­nannten Bildungszugänge – Umweltbildung, Menschenrechts­bildung, Global Learning – im Konzept der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) aufgingen. Heute sind die 17 Ziele der UNO tatsächlich eine zentrale Referenz unserer täglichen Arbeit. Sie geben uns und den Lehrpersonen einen klaren Wertefokus, eine gemeinsame Sprache. Begriffe wie Gerechtigkeit, Menschen­rechte, Solidarität, Umweltschutz, Partizipation und Demokratie sind in diesen Zielen aufgehoben. Dabei geht es in der pädagogi­schen Arbeit immer um die Ausbildung und Stärkung von Kompe­tenzen, nicht ums Lernen von oder über Nachhaltigkeit.

Welche Rolle hat aus Ihrer Sicht die Schule bei der Umsetzung der Agenda 2030?

Jürg Lauber: Die Schule macht den Kindern und Jugendlichen be­wusst, vor welchen Herausforderungen die Welt steht. Sie gibt ihnen zudem Instrumente an die Hand, damit sie diese Heraus­forderungen später bewältigen können. Die Schule ist ein Ort, wo man ein Verständnis dafür entwickelt, dass andere Menschen anders denken, anders aussehen, anders sein können. Und sie muss – wie Frau Sokol bemerkt hat – die Kinder so stärken, dass sie die Dinge selbst in die Hand zu nehmen lernen.

Klára Sokol: In der Arbeit von éducation21 steht der Gedanke im Zentrum, dass die Schule als Teil ihres Grundauftrags die Kinder zur Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft vorbereitet. Aber wenn ich als Lehrerin möchte, dass sie Partizipation lernen, dann stehe ich nicht frontal vor den Schülerinnen und Schülern, son­dern lasse sie tatsächlich partizipieren. BNE sensibilisiert darum nicht nur für die Ziele der Agenda 2030. Sie wirft auch Fragen der methodisch­-didaktischen Umsetzung auf. BNE regt zur Weiter­entwicklung der pädagogischen Praxis an.

Die Umsetzung der Agenda 2030 obliegt dem Bund, während Volksschulbildung eine Aufgabe der Kantone ist. Welche Rolle hat hier éducation21?

Klára Sokol: Auf Bundesebene deckt eine Reihe von Ämtern die Themen der Agenda 2030 ab – die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, die Bundesämter für Umwelt, für Gesundheit, für Energie und andere mehr. Sie alle können nicht direkt in den Schulen tätig sein. Gleichzeitig erwähnen alle sprachregionalen Lehrpläne Nachhaltigkeit. Hier kommt éducation21 ins Spiel. Die Stiftung übersetzt die Anliegen der Agenda 2030 in die päda­gogische Praxis, bereitet sie lehrplankonform auf, konkretisiert sie in Lernmedien, didaktisierten Filmen oder Themendossiers. Wir bilden eine Brücke zwischen verschiedenen Ebenen und den Sprachregionen. Und wir entlasten und unterstützen die Lehr­personen.

Ich greife eines der 17 Ziele heraus, die Reduktion von Ungleichheiten. Wie geht die UNO vor, um dieses Ziel zu erreichen?

Jürg Lauber: Grundsätzlich erfolgt die Umsetzung der 17 Ziele nicht isoliert, sondern gleichzeitig. Ungleichheit tritt in Form von Armut auf, von mangelnder Gesundheitsversorgung, von unglei­chem Zugang zu Bildung und so weiter. Die UNO verfügt über eine Vielzahl von Programmen und Organisationen für diese Themen. Dabei geht sie bedürfnisorientierter vor als früher. Sie klärt gemeinsam mit nationalen und lokalen Entscheidungsträgern Handlungsfelder ab und entwickelt Massnahmen, bei deren Um­setzung die UNO-Organisationen und ihre Fachleute mitwirken.

Welche Dilemmata tauchen da auf?

Jürg Lauber: Wer wirtschaftlich vorankommen und auf ökologi­sche und soziale Verhältnisse Rücksicht nehmen will, bewegt sich automatisch in einem Spannungsverhältnis. Zudem werden die finanziellen Ressourcen knapper; daraus ergeben sich oft Prioritätenkonflikte. Und nicht immer finden die lokalen Akteure das, was die UNO­-Fachleute für das Beste halten, gleich wichtig.

Und wie greift die Schule die Reduktion von Ungleichheit auf?

Klára Sokol: Die Reduktion von Ungleichheit kommt in den Lehr­plänen nicht vor. Aber das Thema findet sich im Begriff der Soli­darität wieder. Die Kinder lernen nicht Ungleichheiten kennen, sondern erfahren, solidarisch zu handeln. Das ist ein gutes Bei­spiel für die Rolle von éducation21: Sie leistet Übersetzungs­arbeit zwischen der Agenda 2030 und der Schule – auf der Basis der «positiven Pädagogik».

Kann die Schule so komplexe Zusammenhänge aufbereiten, wie sie sich aus den geschilderten Schwierigkeiten ergeben?

Klára Sokol: Mit der Agenda 2030 gilt jedes Land als Entwick­lungsland, wie Herr Lauber gesagt hat. Das betrifft auch unsere Gesellschaft. Wir alle müssen lernen, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, auch die Schule. Ein Beispiel: Die Schülerschaft wird heterogener, kulturelle Vorstellungen und Wertvorstellungen etwa über gesundes Essen oder Geschlechtergerechtigkeit divergieren. Die Schule muss den Kindern gleichzeitig Raum geben, ihre individuellen Potenziale zu ent­wickeln. BNE liefert mögliche pädagogische Antworten und Lösungen, aber letztlich sind das nur Rezepte. Die Köchinnen und Köche sind die Menschen vor Ort, die Lehrpersonen und Schulleitungen.

Jürg Lauber, die UNO zog im September 2023 ein Halbzeitfazit zur Agenda 2030. Welches sind zentrale Feststellungen?

Jürg Lauber: Wir sind im Rückstand, auch wegen Covid­19. Über die Gründe und Verantwortungen wird kontrovers diskutiert. Ich sehe aber auch Positives: Das Narrativ der 17 Ziele, die man nur im Verbund erreichen kann, wird immer breiter und auch von einer wachsenden Zahl privater Unternehmen aufgenommen. Wenn ich prominente Wirtschaftsvertreterinnen und ­-vertreter reden höre, erkenne ich immer öfter die Agenda 2030.

Ihre Bilanz, Frau Sokol? Wie gut ist BNE in der Schule angekommen?

Klára Sokol: BNE ist in den Lehrplänen verankert, daran orientiert sich die Schule. Aber sie braucht Zeit und Ruhe für die Umsetzung: in der Lehrerinnen­ und Lehrerbildung, in der Erarbeitung von Lehrmitteln, in der Schulentwicklung. Es wurde viel erreicht. Zu­gleich darf man die Schule nicht überfordern, sie kann nicht die Probleme unserer Gesellschaft korrigieren oder lösen.

Herr Lauber, ein Schlusswort?

Jürg Lauber: Ich mache mir Sorgen über den Zustand der Welt. Aber ich bin zugleich überzeugt, dass die Agenda ein fantasti­sches Dokument ist, um das Schlimmste abzuwenden. Ich habe den Ausführungen von Frau Sokol interessiert zugehört und finde es sehr ermutigend, wie ihre Organisation die Agenda 2030 auf­nimmt. Der Schule kommt eine zentrale Rolle zu. Mich freut es, dass sie diese in der Schweiz mit so viel Bewusstsein und fach­licher Tiefe wahrnimmt.

Jürg Lauber

«Die Schule macht den Kindern und Jugendlichen be­wusst, vor welchen Herausforderungen die Welt steht. Sie gibt ihnen zudem Instrumente an die Hand, damit sie diese später bewältigen können.»
Jürg Lauber

Klára Sokol

«Die Stiftung übersetzt die Anliegen der Agenda 2030 in die päda­gogische Praxis, bereitet sie lehrplankonform auf, konkretisiert sie in Lernmedien, didaktisierten Filmen oder Themendossiers.»
Klára Sokol

 
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