Die Klasse 4E der Mittelschule Bellinzona 1 hat gemeinsam mit ihrer Klassen- und Italienischlehrerin Frau Sultan Filimci im Juli 2017 eine Reise nach Sizilien unternommen. Drei Lehrpersonen und sechs Schüler/-innen wollten die Realität der Migranten, die nach Europa gelangen, besser kennenlernen.
Sultan Filimci, was hat Sie dazu veranlasst, sich auf diese Reise zu begeben?
Zwei Motive haben uns zu unserer Reise inspiriert; das erste war Elyas, der vor drei Jahren aus dem fernen Eritrea in unsere Klasse gekommen ist. Wir waren von seinen Erlebnissen sehr beeindruckt. Das zweite Motiv gab uns Regisseur Stefano Ferrari: In seinem Dokumentarfilm „Lo stesso mare“ (2014) haben wir die Situation der Migranten gesehen, die über das Meer nach Italien kommen. Einen Klassenkameraden zu haben, der ohne seine Familie eine solche Reise gewagt hat, veranlasste uns über unser eigenes Leben und unsere Lebensweise nachzudenken. Warum verlassen Menschen ihre Familien? Warum setzen sie ihr Leben aufs Spiel, um nach Europa zu gelangen? Kann unsere Klasse jenen helfen, die nach Europa kommen und sich hier fremd fühlen?
«Lesen war ganz wichtig. Nur so konnten wir uns mit dem Thema vertraut machen.»
Wie haben Sie sich auf die Reise vorbereitet - in der Klasse, aber auch privat? Welche Botschaft und/oder welche Fragen haben Sie auf die Reise mitgenommen?
Lesen war ganz wichtig. Nur so konnten wir uns mit dem Thema vertraut machen. Wir haben Romane analysiert, Artikel gelesen, Untersuchungen über die Migration angestellt und uns Dokumentarfilme angesehen. Unsere Absicht war, jenen, die sich auf diese Reisen voller Tücken und Gefahren gemacht haben, ein Signal der Nähe und der Solidarität zu geben, und letztendlich wollten wir ihre Geschichten und die Gründe erfahren, die sie dazu bewogen haben, ihr Land zu verlassen.
Weshalb fiel die Wahl auf Sizilien und auf Mineo?
Ganz einfach. Wir haben diesen Ort gewählt, weil er das Ziel von Stefano Ferrari war. Sein Dokumentarfilm hatte uns sehr beeindruckt, so konnten wir es ihm gleichtun und mit ihm in Kontakt bleiben. Ausserdem landen die meisten Flüchtlingsschiffe in Sizilien, und die Insel bemüht sich mit grossem Engagement darum, die in Zusammenhang mit der Migration und Aufnahme stehenden «Probleme» zu bewältigen.
Erzählen Sie uns ein paar signifikante Episoden von Ihrer Reise? Einige intensive Momente, die die Teilnehmenden beeindruckt haben.
Ich zitiere einige Passagen aus den «Reisetagebüchern» meiner Schüler. Diese Zeilen, die an einige besondere Begegnungen mit den Migranten erinnern, beschreiben die wichtigsten Momente.
Aus dem Tagebuch von Genc, 2. Juli 2017 | Heute haben wir zwanzig Migranten kennengelernt, die im CARA [Aufnahmelager für Asylbewerber, Anmerkung der Redaktion] von Mineo untergebracht sind. (...) Die Verständigung mit ihnen auf Englisch und Französisch war schwierig. Zum Glück haben uns die Lehrer/-innen und Shana, die gut Französisch spricht, geholfen. Auf unsere Fragen haben wir erfahren, dass viele von ihnen ihre Familie, Verwandten und Freunde verlassen mussten, um Arbeit zu finden und die zurückgebliebenen Eltern unterstützen zu können. Etliche sind auch wegen Unruhen und Krieg geflüchtet. Viele wollten nur nach Libyen gehen und dort arbeiten, um der Familie, den Kindern Geld zu schicken. (...) Wir haben auch Spiele mit ihnen gespielt und versucht, ihnen mit Büchern und Quizspielen die Bedeutung einiger wichtiger Wörter auf Italienisch verständlich zu machen. Zum Dank haben sie typische Lieder aus ihrer Kultur für uns gespielt und gesungen. Es war bewegend, in ihren Stimmen ihren Schmerz, aber auch Hoffnung zu spüren.
«Das ist kein aufgesetztes Gutmenschentum, sondern Solidarität...»
Was haben ihre Schüler/-innen bei dieser Reise gelernt? Hätte man das gleiche Ergebnis nicht auch im Klassenzimmer erzielen können?
Artikel und Romane in der Schule zu lesen, ist eine Sache. Mit Migranten auf Englisch oder Französisch zu sprechen, ihnen in die Augen zu schauen und einen echten Kontakt mit ihnen aufzubauen, ist etwas ganz anderes. Unsere Nachforschungen vor Ort haben uns motiviert, uns viele Erkenntnisse anzueignen. Die wichtigste Lehre war folgende: Angesichts dessen, was in vielen europäischen Staaten geschieht, deren Regierungen die Flüchtlinge generell abzuwehren versuchen, sind wir davon überzeugt, dass eine moderatere Haltung möglich wäre. Das ist kein aufgesetztes Gutmenschentum, sondern Solidarität, die es uns erlaubt, unseren Mitmenschen in die Augen sehen und ihre Geschichten anhören zu können.
Und wie geht es nach dieser Erfahrung nun weiter?
Durch diese gemeinsame und ungemein wichtige Reise ist unsere Gruppe zusammengewachsen. Wir spüren, dass wir uns verändert haben; wir haben intensive und unvergessliche Momente miteinander erlebt. Wir haben viele positive Eindrücke von unserem Projekt gesammelt, und das motiviert uns zu neuen Ideen, zu neuen Zielen.
Nehmen sie das Thema nach dieser Reise anders wahr?
Wir haben uns mit einem sensiblen Thema beschäftigt und sind nun besser auf die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft vorbereitet. Wir sind jetzt in der Lage das Phänomen zu umreissen und kennen seine Ursachen, dadurch lassen sich politische Entscheidungen objektiver treffen. Die herrschende Stimmung verliert ihren Einfluss und wir sind in der Lage eine reife und bewusste Position zu vertreten.
|