Bereits Aristoteles wandelte umher, während er an seiner Philosophenschule, dem Peripatos (altgr. peripatetikos „Akt des Gehens“) lehrte, und Nietzsche behauptete: «Alle wahrhaft grossen Gedanken kommen einem beim Gehen». In dieser Perspektive entstand das Projekt «Le vostre idee vanno in passeggiata» von Martino Guzzardo, bei dem die Lernenden beim Spazierengehen in der Natur reflexive und kreative Aufgaben ausführen.
In der Schule findet der Unterricht vorwiegend sitzend im Klassenzimmer statt. Das von Ihnen vorgeschlagene Projekt holt Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler aus der Schule heraus. Warum?
Heutzutage (er)leben wir die paradoxe Situation, dass wir regelmässig im Sitzen über die Problematiken unserer sitzenden Lebensweise reden, und das sogar bei Fortbildungen in der Sportwissenschaft. Daher hielt ich es für notwendig, Alternativen zu finden und eine Idee vorzuschlagen, die es uns ermöglicht, die Bewegung zu fördern und gleichzeitig Neues zu lernen: Gehen und Studieren. Dieser Vorschlag, der keineswegs neu ist, fügt sich nahtlos in die Förderkampagne «Die Bewegte Schule» des BASPO ein.
Welche Rolle kann oder muss die Schule im Hinblick auf das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen einnehmen?
Die Gesundheit stellt keinen Selbstzweck dar, sondern ist eine unverzichtbare Ressource, um Wohlbefinden sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene, zu erreichen. In diesem Sinn sollte die Schule Mittel bereitstellen, um die Gesundheit aufzuwerten, damit wir über die eigenen Bedürfnisse nachdenken und dafür Sorge tragen, dass sich alle wohl fühlen. Hierzu können beispielsweise auf Klassen- oder Schulebene Projekte zu Themen wie Zusammenleben, Gesundheitsförderung, Gemeinschaft oder Solidarität ins Leben gerufen werden. So wird die Schule zu einem Versuchslabor, in dem man für das ganze Leben lernt.
«Daher hielt ich es für notwendig, eine Idee vorzuschlagen, die es uns ermöglicht, die Bewegung zu fördern und gleichzeitig Neues zu lernen: Gehen und Studieren.»
Wie wirkt sich Bewegung während des Unterrichts auf die Gesundheit aus?
Bewegung ist ein Grundbedürfnis. Gerade in dieser von der Pandemie gekennzeichneten Zeit wird uns das bewusst. Ich kann wohl getrost behaupten, dass auch wir Erwachsenen uns besser fühlen, wenn wir beim Nachdenken draussen spazieren gehen, anstatt drinnen im Sessel sitzen. Bewegung ist Gesundheit. Ausserdem belegen zahlreiche Studien, dass in Verbindung mit Bewegung die Lern- und Merkfähigkeit verbessert und die Kreativität gesteigert wird.
Gemeinsam mit dem Schulnetz21 haben Sie das Projekt «Le vostre idee vanno in passeggiata» entwickelt. Welchen Mehrwert bringt dies gegenüber dem Unterricht im Klassenzimmer?
Der Mehrwert besteht in der Zusammenarbeit. Gemeinsam können bessere Lösungen oder Projektideen für die Klasse, die Schule, die Einrichtungen in der Umgebung, die Vereine im Quartier oder die ortsansässigen Betriebe gefunden werden. So ist es möglich, ein Netzwerk rund um die Schule aufzubauen. Dies ist einfacher zu verwirklichen, wenn man aus dem Klassenzimmer herausgeht.
Lesen Sie weiter
Körperliche Aktivitäten im Freien bringen auch den Verstand in Bewegung. Warum? Wodurch wird Kreativität gefördert?
In der Literatur ist belegt, dass das Lernen im Freien bedeutenden Einfluss auf die Kreativität der Schülerinnen und Schüler hat. In den nördlichen Ländern ist es weit verbreitet, einige Fächer, wie z. B. Mathematik, draussen zu unterrichten, da es dort einfacher ist, sogar komplexe Inhalte anschaulich und greifbar zu vermitteln. Besteht die Aufgabe zum Beispiel darin, das Gefälle eines Hangs oder Berges oder die Höhe eines Baumes zu berechnen, bedeutet Draussenunterricht, an konkreten Beispielen zu arbeiten.
Beeinflusst die Natur Gesundheit und Kreativität?
Natur wirkt sich positiv auf den Menschen aus. Der Draussenunterricht verbessert nicht nur die kreativen Fähigkeiten der Lernenden, sondern steigert auch ihr Wohlbefinden. Dies wird auch in der Forschungsarbeit von Ophélia Dysli-Jeanneret (Leiterin des Sportamts der Gemeinde Yverdon-les-Bains) belegt. Sie verglich die Kreativität von Schülerinnen und Schülern aus verschiedenen Klassen , von denen einige im Freien unterrichtet wurden und andere nur im Klassenzimmer.
«Bewegung ist ein Grundbedürfnis»
Profitiert die Natur vom Unterricht im Freien?
Durch das Arbeiten draussen in der Natur wird ein Gleichgewicht zwischen dem Lernen und dem realen Leben ausserhalb der Schule hergestellt: Die Schülerinnen und Schüler werden wieder neugierig auf das, was um sie herum vorgeht, und sie können ihre Lebensumgebung besser kennenlernen. Verschiedene Natur- und Umweltpädagogen arbeiten auf diese Weise, wie z. B. die Verbände SILVIVA und Geasi, die zahlreiche Aktivitäten in der Natur anbieten. Dadurch wird auch ein rücksichtsvoller Umgang mit der Natur gefördert.
Die Partizipation stellt eine grundlegende Kompetenz innerhalb Ihres Projektvorschlags dar: Wie kann sie realisiert werden und warum ist sie auch für die Nachhaltige Entwicklung wichtig?
Wenn wir Wohlbefinden anstreben, müssen wir an unseren eigenen Bedürfnissen arbeiten, die dafür sorgen, dass es uns gut geht. Selbstverständlich müssen wir dabei auch die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen, die unsere Gesellschaft zu bewältigen hat, berücksichtigen. In diesem Sinne ist die aktive Beteiligung an der Verwirklichung einer Nachhaltigen Entwicklung von grundlegender Bedeutung. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Bedürfnisse auszudrücken, zu teilen und geltend zu machen. Die Schule muss also Räume zur Verfügung stellen, in denen die Lernenden ihre eigenen Projekte umzusetzen können. Durch das Verlassen des Klassenzimmers und die Zusammenarbeit mit anderen werden diese Projekte konkret und die Lernenden können ihnen eine eigene Bedeutung zuordnen. Dies ist besonders wichtig, weil die Schülerinnen und Schüler nur so die Freude am Selbermachen entdecken, Kritikfähigkeit entwickeln und Stellung gegenüber dem eigenen Verhalten beziehen können.
«Wenn die Verwirklichung einer Idee von Wissen ausgeht, das sich die Lernenden aneignen, kommen viele BNE-Kompetenzen zur Anwendung»
Welche weiteren BNE-Kompetenzen werden, neben Kreativität und Partizipation, noch von Ihrem Vorschlag angesprochen und wie werden sie aktiviert?
Wenn die Verwirklichung einer Idee von Wissen ausgeht, das sich die Lernenden aneignen, kommen viele BNE-Kompetenzen zur Anwendung. Genauer gesagt: Zuerst müssen die Lernenden das neue Wissen verstehen. Danach erfolgt seine Aneignung, indem es auf systemische Weise kontextualisiert wird. Der so erhaltene Gesamtüberblick wandeln die Schülerinnen und Schüler in der Zusammenarbeit mit anderen um, indem sie die Idee selbstständig und in eigener Verantwortung verwirklichen.
Aus dieser Beschreibung versteht sich, dass auch der zurückgelegte Weg wichtig ist. Das Ergebnis erfüllt vielleicht nicht immer die anfänglichen Erwartungen der Lehrperson, ist manchmal sogar ernüchternd. Das kann passieren, wenn die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern gewisse Freiheiten einräumt und einen Teil der Kontrolle abgibt. Dies erfordert jedoch einen Paradigmenwechsel bei den Lehrpersonen. Die Lehrperson wird von der Inhaberin und der Vermittlerin von Wissen zur unterstützenden Förderin. Sie weiss, wo und wie Wissen zu finden ist, und stellt Instrumente bereit, die die Schülerinnen und Schüler benötigen, um sich den Herausforderungen von Morgen zu stellen.