Fachwissen verliert an Bedeutung

Text und Foto: Daniel Fleischmann für éducation21

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Was erwartet die Wirtschaft von der Schule?

Die Kinder von heute wachsen in einer sich rasch verändernden Welt auf. 65 Prozent der Berufe, die sie lernen werden, gebe es «in dieser Form» noch nicht, heisst es. So vage die Quote erscheint: Die Frage stellt sich, wie die Schule auf eine Arbeitswelt im Wandel reagieren soll.

«Fertig mit der Industrieschule! Das Schulsystem soll endlich an die Arbeitswelt der Zukunft angepasst sein! Es braucht in erster Linie mehr Individualität und Kreativität!»

So klingt die Werbung für die Initiative «Future Skills». Aber halt: Diese Initiative gibt es nicht wirklich. Sie ist Teil einer Umfrage zur Ausstellung «Schule Experiment Zukunft» des Schulmuseums Bern (smb). Zur Auswahl stehen fünf Initiativen, z. B. gegen die Überforderung der Kinder oder für eine smarte Schule. Mehr als tausend Personen haben bereits ihre Favoriten gewählt, bis jetzt hat «Future Skills» die Nase vorn.

Die Frage, wie Schule auf den Wandel in Arbeit und Gesellschaft reagieren soll, treibt viele um. «das heft», die Zeitschrift der PHNW, stellte diese Frage jüngst, ebenso das Berner Schulb- latt «Education» und das Buch «Schule21 macht glücklich». «Diskurse über die Zukunft des Bildungswesens werden in zahlreichen Fach- und Interessenkreisen geführt», sagt smb-Leiterin Andrea Matter. «Was jedoch fehlt, ist eine öffentliche Diskussion.»

Die Schule in Zeihen

Wie Schule von morgen aussehen könnte, lässt sich in Zeihen (AG) beobachten. Hier lernen die Kinder im Rahmen von «Planarbeiten»: Sie entscheiden selbst, was sie mit wem auf welchem Niveau lernen. Ein «Kanban-Board» hilft ihnen, den Überblick über offene, laufende und erledigte Arbeiten zu behalten. In den Klassenzimmern stehen nur noch wenige Schulbänke. Eine Theke und ein Sofa haben sie ersetzt – oder die Kinder lernen im Freien in der «Draussenschule». Darbietender Unterricht findet kaum mehr statt, meist zur Einführung in ein neues Thema.

Schulleiter Daniel Jeseneg sagt: «Die Kinder sollen ihr Lernen selber gestalten – methodisch, organisatorisch, sozial. Sie müssen üben, sich rasch in unsicheren oder mehrdeutigen Situationen zu orientieren und Entscheide zu fällen.» Wie die Arbeit in Zukunft aussehen werde, sei dabei weniger zentral als die Entwicklung des Kindes. «Unser Orientierungspunkt bei der Gestaltung der Schule und des Unterrichts sind die Kinder. Nur darum geht es: dass sie ihre Potenziale entfalten können.» Dieser Grundsatz ist kein Widerspruch zu einer Arbeitswelt, die immer mehr nicht routinemässige (manuelle, analytische oder interpersonelle) Aufgaben bringen wird, wie die OECD in ihrem Lernkompass 2030 schreibt.

Wie können die Kinder darauf vorbereitet werden? Die OECD beantwortet die Frage mit der Idee der «student agency», der Handlungsfähigkeit von Lernenden, die auf den Grundlagen von Wissen, Fähigkeiten und Haltungen basiert.

Schlüsselkompetenzen sind die Fähigkeit,

  • Sprache, Symbole oder Informationen interaktiv anzuwenden und Technologien zu nutzen,
  • tragfähige Beziehungen zu unterhalten, in heterogenen Gruppen zu interagieren und Konflikte zu lösen,
  • eigenständig zu handeln, eigene Projekte zu realisieren sowie Rechte, Interessen oder Grenzen wahrzunehmen.

Die Sicht der Arbeitgeber

Nicole Meier ist Ressortleiterin Bildung des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes. Ihr Verband ist im ständigen Austausch mit vielen Lehrbetrieben und Branchenorganisationen. Für sie ist klar, dass die Megatrends der Digitalisierung, Ökologisierung und Globalisierung die Arbeitswelt weiter verändern werden. Was das für die Schule heisst, kommentiert Nicole Meier zurückhaltend: «Die Volksschule ist Hoheit der Kantone und Gemeinden.» Sie deutet aber an, dass sie sich eine intensivere Auseinandersetzung mit der Berufswahl und der Laufbahnplanung wünscht. Ebenso müssten Teamarbeit oder unternehmerisches Denken stärker gefördert werden. Und sie stellt die Breite des vermittelten Fachwissens infrage: «Spezialisierungen werden oft verpönt; dabei sind sie per se kein Problem, wenn wir lernen, uns Wissen kontinuierlich am und neben dem Arbeitsplatz anzueignen.»

Welche schulischen Anforderungen sich in der Lehre stellen, zeigt das Projekt «Anforderungsprofile» der Initiative Berufsbildung 2030. Die Instrumente zeigen den Jugendlichen, welche Leistungen sie in der Erstsprache und der Mathematik je nach Beruf vor Lehrantritt erreichen sollten, und unterstützen so einen gelingenden Übergang von der Schule in die Sekundarstufe II. Allerdings beschreiben die Profile nur einen Ausschnitt der Anforderungen an die Jugendlichen, und wohl nicht einmal den wichtigsten. Als die Swisscom vor einigen Monaten mitteilte, dass sie bei der Auswahl von Lernenden keine Schulnoten und Bewerbungsdossiers mehr heranziehen und stattdessen «den Menschen ins Zentrum stellen» werde, war die Überraschung in Fachkreisen gross.

Noch immer alte Schule

Wie soll die Schule auf den Wandel der Arbeit reagieren? Rahel Tschopp beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dieser Frage. Sie war unter anderem Schulleiterin und PH-Dozentin und arbeitet nun als Bildungsberaterin. Für sie ist klar, dass die Arbeitswelt noch komplexer, vieles automatisiert sein wird und die Menschen öfter in Projekten und in Teams arbeiten werden. «Entscheiden können, Unsicherheiten aushalten, flexibel reagieren, die eigenen Stärken und Grenzen kennen – solche Fähigkeiten werden immer wichtiger», sagt Tschopp.

Doch obwohl dies eigentlich klar sei, sehe sie davon viel zu wenig: «Schule gehorcht noch immer den 7-G: Die Kinder sind im gleichen Alter und sollen zur gleichen Zeit bei der gleichen Lehrkraft auf die gleiche Art und Weise im gleichen Tempo die gleichen Inhalte lernen, um damit die gleichen Lernziele zu erreichen.» Trotz Lehrplan21 verharrten viele Schulen in alten Mustern. «Damit verlieren wir so viele Talente», sagt Rahel Tschopp.

Weitere Informationen

Schule Experiment Zukunft

Berufe erkunden – Anforderungen vergleichen

OECD Lernkompass 2030 (PDF, kostenlos)

Vortrag Daniel Jeseneg «Draussenschule» (YouTube-Video)

Denkreise (Rahel Tschopp)

 

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