Die grossen Unsichtbaren in der nachhaltigen Entwicklung

Les animaux, impensés du développement durable ?

Hinterfragt: Der Platz der Tiere in der nachhaltigen Entwicklung | DR. ISABELLE BOSSET

Tiere sind angesichts der ökologischen und sozialen Herausforderungen Schlüsselakteure einer nachhaltigen Entwicklung. Die UNO-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) unterstützen jedoch eine anthropozentrische, also menschenzentrierte Perspektive. Das wirft Fragen nach dem Platz der Tiere auf. Dieser Artikel stellt alternative ethische Haltungen zum Anthropozentrismus und Wege vor, um die SDGs mit den Schülerinnen und Schülern neu zu denken.

Tiere sind Teil unseres Alltags. Sie spielen auch bei den grossen ökologischen und sozialen Herausforderungen der Menschheit eine zentrale Rolle. So trägt etwa der gestiegene Fleischkonsum weltweit zu höheren Treibhausgasemissionen bei, die wiederum den Klimawandel befeuern. Werden natürliche Lebensräume von Wildtieren zerstört, sind sie gezwungen, diese zu verlassen und sich den von Menschen bewohnten Gebieten zu nähern – was wiederum Zoonosen begünstigt. Die Tiere bei der nachhaltigen Entwicklung und bei BNE mitzudenken, ist also absolut relevant.

Globale Herausforderungen, nachhaltige Entwicklung und die SDGs

Im Licht immer drängenderen Herausforderungen wie des Klimawandels oder der Gesundheitsrisiken scheint die Nachhaltigkeit der gemeinsame Nenner, um den Lebensraum Erde zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Die Programme für nachhaltige Entwicklung geben den Weg zu einer gemeinsamen Vision vor, wobei die Agenda 2030 (Vereinte Nationen, 2015) mit 193 Unterzeichnerstaaten dabei die universelle Referenz schlechthin darstellt. Mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) verkörpert sie die Hoffnung auf ein würdiges und sicheres Leben für jede und jeden (éducation21, 2024). Diese Ziele decken unterschiedlichste Bereiche ab. Dazu zählen Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, Zugang zu Trinkwasser, der Kampf gegen den Klimawandel und viele andere. Sie sollen globales Handeln anregen, um eine nachhaltigere, gerechtere Zukunft für heutige und künftige Generationen aufzubauen. Angesichts der wichtigen Rolle, die Tiere bei diesen Problematiken spielen, darf man den Platz bzw. das Ranking infrage stellen, das ihnen in der nachhaltigen Entwicklung bzw. bei den SDGs eingeräumt wird.

Platz der Tiere in den Nachhaltigkeitszielen

Überprüft man die Nachhaltigkeitsziele dahingehend, ob und wie Tiere darin erwähnt werden, offenbart sich eine menschenzentrierte Perspektive. Im Fokus steht der Gewinn, den Menschen aus Leistungen und Vorteilen der Umwelt, inklusive der Lebewesen, ziehen können:

  • Keine Armut (SDG 1): Erhalt der Biodiversität und Ökosystemleistungen für den Menschen, insbesondere für Personen in extremer Armut, die noch stärker unter dem Verlust leiden würden.
  • Kein Hunger (SDG 2): Erhalt der genetischen Vielfalt von Samen, Kulturen und Nutz- oder Haustieren, mit dem Ziel, die landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten zu erhöhen.
  • Gesundheit und Wohlergehen (SDG 3): Verhinderung von Zoonosen, also Krankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden, um die Gesundheit der Menschen zu schützen.
  • Nachhaltiger Konsum und Produktion (SDG 12): Veränderung der Art und Weise, wie produziert und konsumiert wird, damit die soziale und wirtschaftliche Entwicklung weiter im Rahmen der Tragfähigkeit der Ökosysteme stattfinden kann.
  • Massnahmen zum Klimaschutz (SDG 13): Widerstands- und Anpassungsfähigkeit stärken, den Klimawandel, der Ökosysteme, Tiere und Pflanzen beeinträchtigt, bekämpfen mit dem Ziel, die Existenzgrundlagen der Menschen zu erhalten.
  • Leben unter Wasser (SDG 14): Schutz der marinen Ökosysteme und der marinen Biodiversität, um deren Ressourcen nachhaltig zu erhalten und zu nutzen.
  • Leben an Land (SDG 15): Schutz der Biodiversität und bedrohter Lebensräume von Pflanzen und Tieren, um die Landökosysteme nachhaltig zu nutzen.

Diese kurze Analyse erlaubt drei Schlussfolgerungen: Erstens ist Tieren kein eigenes SDG gewidmet. Sie sind nicht explizit, sondern nur implizit mittels zweier wichtiger Begriffe erwähnt – Biodiversität und Ökosysteme. Zweitens: Die bei der Betrachtung von Biodiversität und Ökosystemen gebräuchlichen Begriffe – «erhöhen», «ausbeuten», «nutzen» – drücken eine an Produktivität und Wirtschaftswachstum orientierte Logik aus. Diese wird heute angesichts des Übernutzungsrisikos und der Endlichkeit natürlicher Ressourcen infrage gestellt (Rockström et al., 2009). Und drittens werden zwar die Bewahrung und der Erhalt von Biodiversität und Ökosystemen erwähnt. Letztlich geht es dabei aber um das Wohlergehen und Überleben heutiger und künftiger Menschengenerationen1. Die Massnahmen zur nachhaltigen Entwicklung sind auf die Menschen ausgerichtet, und Letztere profitieren auch davon. Dies entspricht einer anthropozentrischen Sichtweise.

Habe ich «Anthropozentrismus» gehört?

Der Begriff «Anthropozentrismus» muss erläutert werden: Bourg et Papaux (2015) unterscheiden zwischen epistemischem Anthropozentrismus und moralischem Anthropozentrismus. Ersterer bedeutet ganz einfach, dass der Mensch die Welt durch seine menschliche «Brille» wahrnimmt und einordnet. Man «spricht» aus der menschlichen Perspektive, die man nur schwer hinter sich lassen kann. Natürlich kann man versuchen, sich in sein Haus- oder Nutztier hineinzuversetzen und dessen Perspektive einzunehmen. Letztlich bleibt der Mensch aber immer ein Gefangener seiner menschlichen Kognitionen und Affekte. Die zweite Form – der moralische Anthropozentrismus – bezeichnet eine ethische Haltung gegenüber der Umwelt inklusive der Tiere, die beinhaltet, dass nur die Menschen einen inhärenten Wert haben. Tiere hingegen haben einen relationalen Wert: Er ergibt sich aus dem Nutzen, den das Tier in seiner Beziehung zum Menschen erfüllt. Ein Nutztier etwa hat einen sogenannten Nutzwert. Dieser ergibt sich aus der Produktion und dem Konsum von Fleisch. Ein Haustier hingegen hat einen sogenannten moralischen Wert, es bietet dem Menschen Gesellschaft und Zuneigung. Aus dieser Perspektive ist es hinnehmbar, eine Fliege zu töten, eine Biene aber leben zu lassen: Erstere gilt als «nutzlos», wohingegen Letztere durch die Bestäubung wesentliche Funktionen für die Menschen erfüllt, wie etwa den Erhalt der Biodiversität, die Gesundheit der Ökosysteme und letztlich die Nahrungsmittelproduktion.

Über den Anthropozentrismus hinaus

Jede ethische Haltung wirft die Frage auf, wem oder was ein inhärenter Wert zugestanden wird und nach welchen Kriterien: Für den Anthropozentrismus sind das Intelligenz und Bewusstsein. Hier drei alternative ethische Haltungen mit ihren Kriterien:

  • Der Pathozentrismus berücksichtigt die Fähigkeit, Schmerz – körperliche Schmerzen und unangenehme Emotionen wie Traurigkeit oder Scham – zu empfinden als zentrales Kriterium. Leid ist ein moralisches Übel. Menschen haben daher eine moralische Verpflichtung gegenüber Tieren, nicht aber gegenüber Pflanzen.
  • Der Biozentrismus betrachtet das Leben als zentrales Kriterium: Jedes Lebewesen hat Rechte. Die Menschen sind – ohne Diskriminierung – allem Lebendigen gegenüber verpflichtet. Das umfasst auch die Tier- und Pflanzenwelt, die mineralische Welt hingegen nicht. Nach diesem egalitären Verständnis ist jedes Leben gleich: Der Wert einer Pflanze entspricht dem eines Menschen. Diese Vision galt als nicht praktikabel. So entstand der hierarchische Biozentrismus. Bei dieser Variante werden die Interessen unter Berücksichtigung der Konsequenzen des Handelns – Fleischkonsum, Tierversuche – für den Menschen gewichtet. Lebewesen werden damit hierarchisiert. Somit nähert sich diese Haltung dem Anthropozentrismus und hebt das Dilemma unserer Beziehung zur Natur hervor.
  • Der Ökozentrismus gesteht allen Lebewesen und Ökosystemen einen inhärenten Wert zu. Im Gegensatz zum Patho- und Biozentrismus aber konzentriert er sich nicht nur auf einzelne Individuen, sondern auf Gruppen von Lebewesen, die Ökosysteme bilden. Letztere haben einen Wert an sich – aber nicht nur in Bezug auf die menschliche Nutzung, wie in den SDGs suggeriert.

Im Unterricht: Hinterfragt den Platz der Tiere in den SDGs

Die Lehrperson kann die obige Analyse und die alternativen ethischen Haltungen nutzen, um den Platz der Tiere in den SDGs und – in weiterem Sinne – in der nachhaltigen Entwicklung zu hinterfragen. Hier einige Vorschläge, um je nach Zyklus und Interessen der Schülerinnen und Schüler Zusammenhänge herzustellen:

  • Erstellung eines SDG 18 «Tiere» und der Themen, die es enthalten würde, wie etwa: Tierschutz und Tiergesundheit, Tierrechte, Tiererziehung. Die Schülerinnen und Schüler auffordern, Ziele zu formulieren.
  • Herstellung von Verbindungen zwischen dem SDG 18 «Tiere» und den anderen SDGs, wie etwa: Inwieweit betrifft Tierschutz Konsum und Produktion? Wie wirkt sich der Klimawandel auf die Tiere aus? Die Schülerinnen und Schüler auffordern, diese Verbindungen herzustellen.
  • Erneute Betrachtung der SDGs aus patho-, bio- und ökozentrischer Sicht: ein SDG aus den unterschiedlichen Perspektiven neu formulieren. Vergleich der Denkprozesse und möglichen Ergebnisse, um eine Diskussion einzuleiten.

Fazit

Die BNE ist kein normativer Ansatz: Es geht nicht darum, die Schülerinnen und Schüler in irgendeiner Weise zu indoktrinieren. Im Gegenteil: Es sind unterschiedliche Perspektiven aufzuzeigen, damit sich die Schülerinnen und Schüler eine fundierte, begründete Meinung bilden können. Die in diesem Text vorgestellten ethischen Haltungen haben alle ihre Grenzen und werfen komplexe Fragen auf. Die Kenntnis darüber ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, selbstsicherer und intelligenter über die Welt nachzudenken und differenzierte Positionen zu entwickeln.

1Dieser generationenübergreifende Altruismus ist der Grundstein für eine nachhaltige Entwicklung und wirft die Frage auf, was wir künftigen Generationen hinterlassen.

Literatur:
– Bourg, D., & Papaux, A. (Éds.). (2015). Dictionnaire de la pensée écologique. Paris : Presses Universitaires de France.
– Bourg, D. & Salerno. G. (s.d.). Les scénarios de la durabilité [Ebook]. Abgerufen unter: https://bookboon.com/premium/books/fd45ef09-4d3d-4963-a67e-a46c- 00f83af6 https://bookboon.com/fr/les-scenarios-de-la-durabilite-ebook?me- diaType=ebook
– éducation21 (Januar 2024). Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG). BNE-Praxismagazin ventuno. Abgerufen unter: www.education21.ch/de/ventuno
– Vereinte Nationen. (2015). Transformation unserer Welt. die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.
– Rockström, J., Steffen, W., Noone, K., Persson, Å., Chapin III, F. S., Lambin, E. F., Foley, J. A. (2009). Planetary boundaries : Exploring the safe operating space for humanity. Ecology and Society, 14(2), 32. Abgerufen unter: https://doi.org/10.5751/ ES-03180-140232.