Interview mit Prof. Dr. Laurent Goetschel

Foto: Ged Altmann; Text: Myriam Brotschy Aguiar

«Ein starkes Selbstbewusstsein hilft, sich einsetzen zu können»

Im Lehrplan 21 werden unter der Leitidee der nachhaltigen Entwicklung fächerübergreifende Themen besprochen. Zu ihnen gehören «Globale Entwicklung und Frieden», «Politik, Demokratie und Menschenrechte» sowie «Kulturelle Identitäten und interkulturelle Verständigung». Wir sprechen mit swisspeace-Direktor Laurent Goetschel über seine Tätigkeit rund um die Friedensförderung.

Laurent Goetschel, wie skizzieren Sie die Kerntätigkeiten von swisspeace?

swisspeace ist das Institut für Forschung und Praxis der Friedensförderung. Wir sind bestrebt, die Praxis der Friedensförderung zu verbessern. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass, wenn man zu den richtigen Fragen Forschung betreibt, Verbesserungspotenzial besteht.

Wichtig zu wissen: Wir sitzen nicht im Elfenbeinturm und entwickeln Ideen, mit denen wir die Praxis beglücken. Wir beziehen unsere Forschungsfragen aus der Praxis, zum Beispiel durch das Analysieren bewaffneter Konflikte, und mit Relevanz für die Praxis. Das ist wie ein Kreislauf.

Bitte nennen Sie uns ein Beispiel.

Ein Beispiel wäre der Bereich der Mediation. Diese lässt sich schlank oder weniger schlank gestalten. Das heisst, man kann in der Mediation versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen.

Oder man kann weiter gehend versuchen, gewisse Sachen zu regeln, die über das Aufhören von Gewalt hinausgehen. Zum Bei­spiel wie man zukünftig Minderheiten behandeln soll. Oder wie man mit Verbrechen, die passiert sind, umgehen soll. Häufig er­gibt sich hier eine Trade-off­-Situation: Man kann versuchen, viele Aspekte in die Mediation hineinzunehmen, und kommt nie zu einem Waffenstillstand. Oder man nimmt sehr wenig mit hinein und kommt schneller zum Ziel, mit der Konsequenz, dass dann vieles noch ungeregelt bleibt.

Sie haben sich der Friedensforschung verschrieben, wie definieren Sie Frieden?

Wir sind bestrebt, dafür zu sorgen, dass Konflikte nicht oder, wenn doch, mit möglichst geringer physischer Gewalt gelöst werden. Die Antwort auf Ihre Frage lautet also: möglichst wenig Gewaltanwendung als Element der Konfliktlösung.

In der Praxis stehen diese Prozesse sehr oft in Verbindung mit funktionierenden Institutionen und Normen, die respektiert werden. Ist ein Staat also nicht allzu korrupt, nicht so gewalttätig und vor allem auch akzeptiert von andern, geht man davon aus, dass dies ein Beitrag zur Gewaltreduktion ist.

Eine ketzerische Frage: Ist Krieg oder ist Frieden der normale Zustand für einen Menschen?

Ich denke, beides. Es gibt gewisse Orte auf der Welt, in denen schon lange Frieden herrscht, ein Grossteil Europas gehört dazu. Dann gibt es Orte, in denen eher Krieg die Norm ist. In Syrien beispielsweise herrscht seit 2011 Krieg.

Ich glaube, es wird immer Krieg geben, ich gebe mich da keiner Illusion hin. Aber man kann die Wahrscheinlichkeit eines Krieges noch mehr zurückdrängen. Bis 1945 war Krieg international zugelassen, er war über lange Zeit ein legitimes Mittel der Politik. Die Tatsache, dass über 140 UNO­-Mitgliedsstaaten die Resolution gegen Russland unterstützten und damit den Völkerrechtsbruch des Einmarsches in die Ukraine anerkannten, zeugt davon, dass dem nicht mehr so ist. Die Regeln gelten, auch wenn sie immer wieder mal missachtet werden.

Dass uns der Ukrainekrieg so entsetzt, ist doch auch ein Zeugnis dafür, dass wir uns an Frieden gewöhnt haben?

Ja, und auch dafür, dass wir Krieg nicht mehr akzeptieren.

1966 hat Otto Friedrich Bollnow geschrieben: «Wenn es sich im Frieden um eine planvoll herbeizuführende Verwandlung des Menschen handelt, so ist er in letzter Hinsicht ein pädagogisches Problem. Die letzte Verantwortung für die Verwirklichung des Friedens liegt in unserer Erziehung.» Welche Gültigkeit hat diese Aussage im 21. Jahrhundert?

Erziehung und Bildung sind ganz wesentliche Elemente für die Förderung von Frieden. Wir führen in Zusammenarbeit mit der Uni Basel mit dem «Master of Advanced Studies (MAS) in Peace and Conflict» ein umfassendes Weiterbildungsangebot. Es besteht aus zahlreichen zwei­ bis fünftägigen Weiterbildungskursen, die entweder einzeln oder als Teil des MAS besucht werden können. Ziel ist es, durch das Fördern von Menschen aus möglichst vielen Erdteilen eine «Community of Practice» aufzubauen. Die Kurse sind so gestaltet, dass die Teilnehmenden ihre Erfahrungen ein­ bringen können und gegenseitig voneinander lernen. Das ist – auch für uns – das Spannende an dieser Weiterbildung.

Unsere Leserinnen und Leser sind Lehrpersonen, die tagtäglich vor Klassen stehen. Was müssen sie über den Frieden wissen, damit sie ihren Auftrag zielführend umsetzen und die Fragen der Lernenden beantworten können?

Ich bin kein Pädagoge. Aber es gibt gewisse Instrumente und Prinzipien, die in der Bearbeitung von Konflikten auf zwischenmenschlicher Ebene gleich sind wie auf der kollektiven, gesellschaftlichen und zum Teil sogar auf der internationalen Ebene.

Die Erläuterung folgender Fragen kann dabei helfen: «Wie definiert man soziale Konflikte?» «Was ist der Unterschied zwischen Position und Interesse?» «Was sage ich, und was will ich wirk­lich?» «Was kann zu einer Eskalation oder Deeskalation eines Konfliktes beitragen?» «Welche Normen sind wichtig?» «Welche Rolle spielen gewisse Institutionen?» «Wie kann man Vertrauen generieren?»

Was sind die Stolpersteine auf dem Weg zum Frieden?

Zu verstehen, dass die Welt nicht überall gleich funktioniert wie auf der nationalen oder zwischenmenschlichen Ebene. Zu verstehen, dass es stärkere und schwächere Staaten gibt, weshalb man sich auf eine minimale Ordnung verständigt. Entsprechend dieser Ordnung sind Staaten auf ihrem Territorium grundsätzlich alleine zuständig (Souveränität), und die Staaten respektieren sich gegenseitig. Alles Weitere, der Schutz der Menschenrechte oder dass man sich nicht bekriegen soll, gilt als Luxus. Aber dieser Luxus ist wichtig, und dort hat sich einiges getan. Schwieriger wird es bei der Frage, welche Werte im innerstaatlichen Bereich gelten, wenn es etwa um Geschlechtergerechtigkeit, Pressefreiheit, Demokratie, Umweltschutz geht: Es gibt diejenigen, die sagen, nur wenn wir diese Themen forcieren, kommen wir zu einer gerechteren und damit friedlicheren Welt. Die Frage ist nur: Wessen Werte lebt dann eine Gesellschaft?

Aber: Wenn man diversere Schulklassen hat, ist das eine Chance, auf die verschiedenen kulturellen Hintergründe einzugehen, Erfahrungen auszutauschen und unterschiedliche Werte sowie Vorgehensweisen zum Schutz dieser Werte zu untersuchen.

Welche Kompetenzen gilt es für Kinder und Jugendliche zu entwickeln, um in Frieden miteinander leben zu können?

Sprachen lernen. Austausch und Erfahrungen machen mit anderen Kulturen. Persönlich bin ich ausserdem davon überzeugt, dass die Förderung einer starken Persönlichkeit elementar wichtig ist. In schwierigen Situationen braucht es auch den Mut, von der Norm abzuweichen. Und ein starkes Selbstbewusstsein hilft, um sich dafür einzusetzen.

Wie kann dieser Austausch, dieses Sammeln von Erfahrungen mit anderen Kulturen erreicht werden? Durch Ferien?

(lacht) Ich denke beispielsweise, jeder Schweizer, jede Schweizerin sollte einmal in Afrika gewesen sein, und nein, nicht auf einer Safari. Ich spiele manchmal mit dem Gedanken einer allgemeinen Dienstpflicht für Frauen und Männer mit der Möglichkeit, zu wählen, wo man einen sinnvollen Einsatz leisten möchte: zuerst ein halbes Jahr in der Schweiz und dann ein halbes Jahr im Ausland. Dies zu einem Zeitpunkt, in dem die jungen Menschen noch abenteuerlustig sind und sich noch nicht an ein bequemes, kostspieliges Leben gewöhnt haben. Unabhängig von ihrem weiteren beruflichen Werdegang wäre das eine spannende, prägende und unvergessliche Erfahrung, die sie in ihr weiteres Leben mitnehmen könnten.

Abgesehen vom «Dienst»: Wo lassen sich noch Erfahrungen sammeln?

Natürlich gibt es auch sonst Gelegenheit, sinnvolle Erfahrungen im Ausland zu machen. Ein Beispiel aus meinem Umfeld: Die hftm, Höhere Fachschule Technik Mittelland, als Technical College of Higher Education war einer der sechs Schweizer Partner des swissuniversities-Sudac-Cofer-Projekts mit dem Namen EFORD (Education for Development). Dazu kamen drei Partner aus dem globalen Süden: Palästina, Südsudan und die Elfenbeinküste. Das Projekt lief zwischen 2017 und 2020 und verfolgte das Ziel, durch partnerschaftlichen Know-how-Transfer in den Bereichen Bildung und Forschung die nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Im Anschluss daran haben wir, swisspeace, mit der hftm und der Universität Juba in Südsudan mit finanzieller Unterstützung der Deza und des Fördervereins der hftm ein spannendes Nachfolgeprojekt initiiert, bei dem es um den Bau einer Fotovoltaikanlage ging. Wir haben Unterkunft und Betreuung organisiert, damit die Beteiligten die Solaranlage vor Ort installieren konnten. In den beiden verlinkten Videos wird erzählt, wie die Diplomstudenten Matthias Wenger und Matthias Jaggi sowie der Projektleiter Christian Grossenbacher, Fachbereichsleiter Elektrotechnik, das Projekt erlebt haben.


Internationale Projekte - Interview mit Matthias Wenger (YouTube-Video)

Interview zum Projekt EFORD im Südsudan (YouTube-Video)

Prof. Dr. Laurent Goetschel

 Laurent Goetschel

 

Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung (swisspeace)

«Erziehung und Bildung sind ganz wesentliche Elemente für die Förderung von Frieden».

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