Wie können die Nachhaltigkeitsziele im Unterricht eingesetzt werden?
Mit Nachhaltigkeitszielen kritisches Denken entwickeln | DR. ISABELLE BOSSET
Die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) sind dank fröhlichen Farben und ihren an Emojis erinnernden Symbole – zum Beispiel Fisch und Wellen für SDG 14 «Leben unter Wasser», dampfende Schüssel für SDG 2 «Kein Hunger» – im kollektiven Bewusstsein angekommen. Visuell ansprechend, stellen sie eine gerechtere und nachhaltigere Welt in Aussicht, die belebt ist von einem konsensorientierten und verbindenden Geist. Reicht es aus, sich an die SDGs zu halten, um das Ziel «Nachhaltigkeit» zu erreichen? Wie gelingt der Einsatz der SDGs im Unterricht und in der Schule?
Die Ziele für nachhaltige Entwicklung gelten als wegweisend im Diskurs über Nachhaltigkeit, vor allem aufgrund des Gewichts der Vereinten Nationen und der vielen Staaten, die sie im Rahmen der Agenda 2030 unterzeichnet haben. Die Stärken und Grenzen der 17 SDGs zu kennen, hilft Lehrpersonen dabei, sie mit den Schülerinnen und Schülern zu hinterfragen und dadurch das kritische Denken anzuregen. Basierend auf der Arbeit von Swain (2018), der die SDGs kritisch analysierte, indem er ihre Operationalisierung und Implementierung beobachtete, widmet sich ein guter Teil dieses Artikels sowohl den positiven wie auch den eher problematischen Aspekten der SDGs. Darauf folgen einige konkrete Ideen für die Arbeit mit den SDGs im Unterricht bzw. in der Schule.
Die SDGs: positive Aspekte
1. Kompatibilität
Einige SDGs beeinflussen einander positiv und zeigen einen gegenseitigen Nutzen auf, wenn man sie gleichzeitig betrachtet. So wird beispielsweise davon ausgegangen, dass das SDG 4 «Hochwertige Bildung» das SDG 5 «Geschlechtergleichheit» stärkt, das SDG 7 «Bezahlbare und saubere Energie» das SDG 13 «Massnahmen zum Klimaschutz» unterstützt und SDG 6 «Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen» zum SDG 3 «Gesundheit und Wohlergehen» beiträgt.
2. Komplexität
Die 17 SDGs und ihre 169 Unterziele spiegeln die Komplexität und die Vielzahl der zu lösenden Probleme wider. Sie sind das Ergebnis umfangreicher Konsultationen und berücksichtigen ökologische (Klima, Leben im Wasser und an Land usw.) und soziale (Armut, Hunger, Ungleichheit) Notlagen sowie deren zahlreiche Wechselwirkungen. Sie bieten eine globale Sicht auf die Herausforderungen, vor denen wir Menschen stehen, und gehen dabei von einer gemeinsamen Verantwortung aus.
3. Flexibilität
Auf internationaler Ebene sind die SDGs nicht bindend. Das erklärt den Konsens in diesem Thema und die Akzeptanz der SDGs: Die Länder haben grossen Spielraum, ihre Politik hinsichtlich Prioritäten und Einsatz von Ressourcen zur Erreichung der SDGs an ihren eigenen Kontext anzupassen. Das Fehlen von Zwängen und Strafen stärkt das freiwillige Engagement und die Möglichkeit, die Umsetzung der SDGs weiterzuentwickeln, wenn sich die Umstände ändern.
Die SDGs: Grenzen
1. Unvereinbarkeit
Die schärfste Kritik bezieht sich auf die Unvereinbarkeit von sozioökonomischer Entwicklung (die immer noch weitgehend auf fossilen Energieträgern beruht) und den Zielen des Schutzes der ökologischen Ressourcen. Die Frage der Vereinbarkeit stellt sich beispielsweise
- zwischen dem SDG 8 «Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum» und dem SDG 13 «Massnahmen zum Klimaschutz», da das Wirtschaftswachstum zu hohen CO2-Emissionen führt;
- zwischen dem SDG 9 «Industrie, Innovation und Infrastruktur» und dem SDG 15 «Leben an Land», da Urbanisierung und Industrialisierung zu Entwaldung und Habitatverlust führen können;
- zwischen dem SDG 2 «Kein Hunger» und dem SDG 14 «Leben unter Wasser», da nicht nachhaltige intensive Fischereipraktiken, die darauf abzielen, möglichst viele Menschen zu ernähren, die Meeresökosysteme häufig bedrohen.
2. Fehlen einer Priorisierung
In direktem Zusammenhang mit dem vorherigen Punkt steht die fehlende Priorisierung zwischen den SDGs, die aus mehreren Gründen problematisch ist. Zum einen verschweigt sie eine wissenschaftliche Tatsache: Es ist unmöglich, Wirtschaftswachstum, Ausbeutung und Endlichkeit der planetaren Ressourcen zu entkoppeln. Zum anderen relativiert sie die Dringlichkeit, die vulnerablere und/oder exponiertere Menschen stärker als andere erleben, indem sie versucht, auf alle Herausforderungen gleichermassen zu reagieren. Schliesslich ist es schwierig, die Fortschritte auf globaler Ebene zu messen, wenn es keinen definierten und gemeinsamen Fokus gibt. Das sogenannte «Wedding Cake»-Modell versucht, auf diese Kritik einzugehen, indem es die SDGs nach dem Muster der starken Nachhaltigkeit priorisiert.
3. Anthropozentrismus
Die SDGs stellen das Wohlergehen und die Entwicklung des Menschen über alle anderen Lebewesen. Dieser Perspektive folgend hat die Natur nur einen rein instrumentellen Wert. Diese Vorstellung wird heute aber insofern infrage gestellt, dass das Überleben unserer Spezies in jeder Hinsicht von einer gesunden natürlichen Umgebung abhängt. Der Anthropozentrismus wirft auch die Frage auf, in welchem Zustand wir die Natur künftigen Generationen hinterlassen möchten. Die angestrebte Transformation unserer Gesellschaften hin zu mehr Nachhaltigkeit bedeutet also unweigerlich, dass wir unsere Beziehung zur Natur, zum Lebendigen und zu den Ökosystemen infrage stellen müssen.
Einsatz der SDGs im Unterricht
Dieser kurze Überblick über die Stärken und Grenzen soll Lehrpersonen ermöglichen, ihr eigenes Wissen und Verständnis der SDGs zu entwickeln. Es folgen zwei Denkanstösse, wie sie im Unterricht Platz finden:
Eine Unterrichtseinheit mit den SDGs vorbereiten
In einem ersten Schritt wählt die Lehrperson ein SDG aus und integriert es anhand der folgenden Fragen in ihre Unterrichtseinheit, ausgehend von ihrem Fachgebiet:
- Welche fachlichen Inhalte (Wissen, Kompetenzen, Themen) kann ich mit dem SDG verknüpfen?
- Kann ich das Thema des SDG mit einem fachlichen Thema in einer themenübergreifenden Perspektive verbinden?
Kann ich fächerübergreifend arbeiten, um das Thema des SDG zu behandeln?
In einem zweiten Schritt und um noch mehr in Richtung BNE zu gehen, kann sich die Lehrperson von folgenden Fragen leiten lassen:
- Kann ich die fünf Dimensionen der Nachhaltigkeit – sozial, ökologisch, wirtschaftlich, Raum und Zeit – integrieren, wenn ich das Thema des SDG bespreche?
- Kann ich das SDG thematisieren, indem ich einen Bezug zum Alltag meiner Schülerinnen und Schüler herstelle?
- Kann ich eine positive Zukunftsvision in Verbindung mit diesem SDG fördern?
Die SDGs hinterfragen, um weiterzukommen
Die oben genannten Grenzen können auch im Unterricht mit Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I oder II diskutiert und erörtert werden. Das gelingt unter anderem, indem die verschiedenen Unvereinbarkeiten zwischen SDGs Gegenstand einer Suche nach konkreten Beispielen sind, in denen die Analyse der Bedürfnisse und Interessen verschiedener Gruppen zu Konsens und kreativen Lösungen geführt hat. Als Antwort auf die fehlende Priorisierung können die Schülerinnen und Schüler eine Hierarchie der SDGs vorschlagen und diese begründen, wobei sie besonders auf die am stärksten gefährdeten Menschen achten sollen. Auch das Erarbeiten neuer SDGs – unter der Annahme, dass nach Ablauf der Frist im Jahr 2030 noch nicht alle Ziele erreicht wurden – oder von SDGs, die in der gesamten Schule umgesetzt werden sollen, kann eine Möglichkeit sein, die Nachhaltigkeitsziele zu thematisieren. Schliesslich kann die Beziehung der Menschen zur Natur auf viele Arten betrachtet und hinterfragt werden. Das geschieht beispielsweise durch das Erforschen anderer Ansätze wie des Öko- oder Biozentrismus oder aber durch das Entdecken anderer Kulturen und deren Beziehung zur Natur.
Literatur:
- Swain, R. B. (2018). A Critical Analysis of the Sustainable Development Goals. In Filho Leal Walter, (ed.), Handbook of Sustainability Science and Research, pp. 341-352.
Abbildung: Wedding- Cake-Modell