Hin zu einem inneren und äusseren Gleichgewicht

 

Text und Foto: Zélie Schaller

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Frieden in sich selbst und um sich herum aufbauen

Vom Vertrauen zum Wohlwollen. Vom Stressabbau zur Konfliktlösung. Von der Ruhe zur Gelassenheit. Diese Schlüsselkompetenzen entwickeln Schülerinnen und Schüler, die das zweite Kindergartenjahr (HarmoS-Stufe 2) im Kanton Freiburg besuchen. Eine Reportage.

«Guten Morgen! Heute möchte ich mit euch über Gefühle sprechen – vor allem darüber, wie ihr damit umgehen könnt. Eigentlich geht es da­ rum, was ihr tun könnt, wenn ihr diese Gefühle in euch spürt. Ihr werdet sehen, dass ihr ver­schiedene Mittel einsetzen könnt.» Nadine Roggo, Lehrerin an der École du Platy in Villars­-sur­-Glâne im Kanton Freiburg, ist an diesem Morgen in die Rolle von Magirelax’ geschlüpft: einer Figur, die ihre Schülerinnen und Schüler dank dem Foulard, das sie an ihrem Knöchel trägt, sofort erkennen.

Eifrig holen sich die Kinder ein Kissen und stellen sich im Halbkreis auf. «Setzt euch bequem auf den Boden, und schaut, dass ihr genügend Platz um euch herum habt. Euer Rücken ist gerade, aber entspannt. Stellt euch vor, euer Kopf wird von einem unsichtbaren Faden nach oben gezogen.» Und schon kann die Reise in die Welt der Gefühle beginnen.

«Wisst ihr noch, über welche Gefühle wir letztes Mal gesprochen haben?», fragt Magirelax’. «Ja, es gibt Freude, die sich wie die Sonne anfühlt, Traurigkeit ist wie Regen, Angst wie ein Sturm und Wut wie ein Gewitter», antworten die Kinder, die sich nun näher mit der Wut beschäftigen werden. Nadine Roggo schlägt ihnen ein Spiel vor: «Ihr seid Schauspielerinnen und Schauspieler – wie in einem Film! Wer möchte eine wütende Szene spielen?» Begeistert meldet sich Jean und wählt Alan als Partner aus. «Wenn mich jemand ärgert, werde ich zornig», erklärt Jean. Und schon zwickt Alan seinen Mitschüler, der mit dem Fuss aufstampft und schreit: «Hör auf!» Die Kinder brechen in Gelächter aus und analysieren dann die Szene mit Magirelax’. Sie identifizieren die Auslöser der Wut: «Schubsen, Schlagen», die Anzeichen: «Schreien, Stirnrunzeln, Tränen, rote Haut, Hitze», die Bedürfnisse: «Respekt und Anerkennung», und schlagen Lösungen vor: «Papier zerreissen, in ein Kissen schlagen, laufen gehen.»

Die magische Hand

Die Lehrerin zeigt den Kindern einen Trick, den sie jederzeit nutzen können: die magische Hand. Sie bittet sie, ihre rechte Hand offen vor sich zu halten und den linken Zeigefinger unterhalb des rechten Daumens auf die Handfläche zu legen. «Folgt nun mit dem Finger der Kurve des Daumens. Beim Aufwärtsfahren atmet ihr ein, beim Abwärtsfahren aus», erklärt sie. Die Kinder atmen langsam und ruhig. Ihre Atemzüge passen sich einander an, bis sie schliesslich im Einklang sind.

Alan ist hin und weg: «Cool! Das fühlt sich richtig gut an. Mein Herz ist fröhlich, es schlägt nicht mehr so fest, und ich fühle mich ruhiger.» Seit Nadine Roggo das P.E.A.C.E.­-Programm in ihrer Klasse eingeführt hat, «sind die Kinder deutlich ruhiger, ausgeglichener und geerdeter. Sie können ihre Gefühle leichter ausdrücken und ihre Bedürfnisse benennen.»

«Die Kinder sind auch mehr bei sich selbst und nehmen damit auch die anderen besser wahr. Alles strahlt von innen nach aussen, wie das Licht eines Leuchtturms. Einen solchen haben wir übrigens in der Klasse, um diese Idee symbolisch darzustellen», erklärt sie. Und sie zählt die vielen Qualitäten auf, die die Kinder entwickelt haben: Wohlwollen, Offenheit gegenüber anderen, Solidarität und Toleranz. Auch das Klassenklima profitiert: Probleme mit der Disziplin, aber auch mit der Aufmerksamkeit hätten deutlich abgenommen, betont sie. Und man glaubt es ihr aufs Wort: Die Kinder arbeiten anschliessend in absoluter Ruhe an einem Scherenschnitt.

Zusammenarbeit und Altruismus

Das Programm P.E.A.C.E. (Présence, Écoute, Attention, Concentration dans l’Enseignement) wurde von der Association Méditation dans l’Enseignement France entwickelt und später von ihrer Schweizer Schwesterorganisation übernommen. Es wird während mindestens zehn Wochen mit Kindern aller Altersstufen durchgeführt und umfasst jeweils zwei 15­minütige Sitzungen pro Woche in der Klasse. Das Programm stärkt die Verbindung der Schülerinnen und Schüler zu ihrem Atem, ihren Gefühlen, ihrem Körper, ihren Mitmenschen und zur Welt. Das Ziel ist die Entwicklung von attentionalen, emotionalen und prosozialen Kompetenzen (Zuhören, Einfühlungsvermögen, Kooperation, Wohlwollen, Konfliktlösung und Altruismus). P.E.A.C.E. trägt auf den Ebenen Verhalten, Können und Wissen zur Entwicklung und zum Wohl der Kinder bei und entspricht zahlreichen Zielen des Westschweizer Lehrplans. Dazu zählen das Kennenlernen der verschiedenen Funktionen und Reaktionen des Körpers, das Wahrnehmen der eigenen Gesundheitsbedürfnisse, das Anerkennen der Andersartigkeit oder auch das Entwickeln des gegenseitigen Respekts in der Schulgemeinschaft.
Weitere Informationen zum Programm P.E.A.C.E.


Vom inneren zum äusseren Frieden

Um Frieden auf dem Planeten zu erlangen, müssten die Menschen erst lernen, sich innerlich zu entwaffnen und sich von den eigenen negativen Emotionen, Ängsten und Zweifeln zu befreien, erklärte der Dalai­Lama im Jahr 2000. Dabei bezieht sich das Wort «Frieden» auf den inneren Frieden oder den Frieden zwischen Ländern. Dazwischen gibt es noch den «interdependenten» Frieden. Innerer Frieden kann als eine Verhaltensweise definiert werden. Je mehr es einem Menschen gelingt, seine Emotionen zu beherrschen, desto grösser wird sein innerer Frieden, und desto mehr wird er positive Gefühle ausstrahlen und bei anderen auslösen. Beim interdependenten Frieden stehen die harmonischen Beziehungen für ein besseres Zusammenleben im Zentrum. Innerer und interdependenter Frieden sind beides dynamische Prozesse, die sich auf sich selbst, auf das Gegenüber und auf andere auswirken. Es lohnt sich also, sie so früh wie möglich zu fördern!
Graines de paix



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