Religionsunterricht: Wie viel Frieden steckt in den heiligen Büchern?

 

Text und Foto: Daniel Fleischmann

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Töten im Namen Gottes?

Viele Kriege waren religiös motiviert. Bibel oder Koran, in beiden Büchern lassen sich sehr kriegerische Stellen finden. In seinem Religionsunterricht vermittelt Christian Peter die Fähigkeit der textkritischen Lektüre: Wahrheiten sind oft Dinge, auf die man sich geeinigt hat.

In den Zehn Geboten steht: Du sollst nicht töten. Aber als Moses sah, dass die Israeliten auf ihrer Suche nach Gott ein goldenes Kalb anbeteten, zerstörte er die Gesetzestafeln und befahl den Leviten, 3000 Männer zu töten – «Brüder, eure Nachbarn und alle, die euch nahestehen».

Es ist Mittwoch, ein schöner Junitag. In Zimmer 533 der Kantonsschule Zug unterrichtet Christian Peter eine erste Klasse in Religionskunde. An die Wand ist ein Bild des Patriarchen der russisch­orthodoxen Kirche projiziert. Kyrill rechtfertigte den Krieg gegen die Ukraine als «metaphysischen» Kampf gegen den Westen – obwohl auch dort Mitglieder seiner Kirche leben. «Wie sollen diese Menschen reagieren?», fragt Christian Peter seine Klasse. «Man sollte Kyrill abwählen», sagt jemand, «sie könnten eine eigene Kirche gründen» oder «man könnte Kyrill töten».

Wenn es um Frieden geht, sind Religionen unsichere Referenzen. Die Wahrheiten der heiligen Bücher sind oft vage formuliert. LRA heisst Lord’s Resistance Army, eine christliche Terrororganisation in Uganda, die «wohl brutalste Rebellengruppe der Welt», wie ein Fachmann sagte. Christian Peter zeigt einen Ausschnitt aus einer Doku, in der ein Mitglied LRA-Entführungen mit dem Wort Jesu rechtfertigte: «Folgt mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen.»

Heisst «Schwert» Krieg? Oder nur Streit?

In der folgenden Stunde geht es darum, zu erkennen, dass man, wie eine Schülerin nach dem Unterricht sagt, «heilige Schriften verschieden verstehen kann». «Es ist einfach, Textstellen aus dem Kontext zu reissen, dann kann man sie leicht seinen eigenen Vorstellungen anpassen», sagt ein anderer Schüler. Christian Peter hat dafür eine Übung vorbereitet: Er legt seiner Klasse aus dem Koran fünf Suren vor, die sie auf eine kriegerische und auf eine friedvolle Weise auslegen sollen – so, wie es al-­Baghdadi im Sinne des Islamischen Staates beziehungsweise der liberale Theologe Muhannad Churschid getan hätten. Was kann man aus Wörtern wie «kämpfen», «verführen» oder «Gutes» machen? Was ist gemeint, wenn von «Übertretungen» die Rede ist oder dem «Weg Gottes»? Auch an einer Stelle aus der Bibel arbeitet die Klasse: «Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.» Darf ein Christ für den Krieg einstehen? Oder bedeutet Schwert, griechisch Machaira, etwa gar nicht Krieg, sondern Streit?

Allmählich gehen die beiden Lektionen zu Ende. «Religiöse oder gesellschaftliche Wahrheiten», sagt Christian Peter, «sind häufig Dinge, auf die man sich geeinigt hat.» Der Handschlag ist für uns eine Geste der Höflichkeit. Für einige Muslimas aber eine Form von unerwünschter Nähe. In diesem Religionsunterricht lernen die Schülerinnen und Schüler, sich – wie im Maturitätsanerkennungsreglement (MAR) formuliert wird – in der gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt zurechtzufinden, auf schweizerischer und internationaler Ebene.



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