Interview mit Édouard Gentaz und Thomas Minder
Text: Jürg Freudiger für éducation21
Interview mit Édouard Gentaz, Professor für Entwicklungspsychologie, und Thomas Minder, Präsident Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz
«Die Schule sollte einem Wohnzimmer ähneln»
Wie hängen Wohlbefinden und nachhaltige Entwicklung an der Schule zusammen? «Es gibt ganz klare Korrelationen», erklärt Dr. Édouard Gentaz, Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Genf. Auch für Thomas Minder, Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, legen Atmosphäre und Motivation den Grundstein für den Lernerfolg. Und diese lassen sich beeinflussen.
Herr Gentaz, Herr Minder: Wann fühlen Sie sich besonders wohl?
Thomas Minder: Für mich ist die Antwort einfach: Ich fühle mich gut, wenn ich mit Menschen zusammen sein kann, die mir nahestehen und mit denen ich mich über das Leben und über Ideen unterhalten kann.
Édouard Gentaz: Für mich gibt es da zwei Ebenen. Einerseits die Ebene der Gemütsverfassung: Fühle ich mich generell gut in meinem Leben, meinen Beziehungen, meiner Arbeit? Andererseits die Ebene des bestimmten Augenblicks, also meiner Reaktion auf ein spezifisches Ereignis.
Das Thema Gesundheit nimmt in den Schulen einen zunehmend wichtigen Platz ein und ist in den Lehrplänen als Bildungsauftrag verankert. Zeigt das Wirkung?
Thomas Minder: Ich denke, es gibt in der Bildungswelt ein ziemlich grosses Bewusstsein für dieses Thema, ja.
Édouard Gentaz: Das glaube ich auch. Der Kerngedanke ist ja, dass alles, was mit sozioemotionalen Aspekten und Wohlbefinden zu tun hat, Teil eines umfassenden Gesundheitskonzepts ist. In den Personalabteilungen der Arbeitswelt ist das längst verankert. Auch im Gesundheitswesen hat man verstanden, dass Einfühlungsvermögen zählt und man Ärztinnen und Ärzte darin ausbilden muss. Und jetzt hat das auch den Bildungsbereich erfasst. Inzwischen werden Programme zum Training sozioemotionaler Kompetenzen in den ersten drei Klassen entwickelt.
Thomas Minder: Aber leider haben wir eine grosse Tradition, die klassischen Fächer zu unterrichten, nicht die übergreifenden Kompetenzen. In der Schule hörte man früher: «Ich bin hier, um mein Fach zu unterrichten!» Dabei geht es in erster Linie genau um das Wohlbefinden: Wenn sich Ihre Schülerin nicht wohlfühlt, können Sie nicht unterrichten.
Édouard Gentaz: Und man kann Soft Skills wie alle anderen lernen und sie trainieren. Es geht darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der das gelingt, denn dann gibt es echtes Interesse, und dann sind Schülerinnen und Schüler in der Lage, Stunden mit einem Thema zu verbringen.
Thomas Minder: In der Zentralschweiz gibt es eine Privatschule, die versucht, ausschliesslich projektbezogen zu unterrichten, beispielsweise in Zusammenarbeit mit echten Unternehmen. Die Kinder sind motiviert und lernen in kürzester Zeit enorm viel.
Dann sind wir also auf Kurs?
Édouard Gentaz: Insgesamt ist die Entwicklung positiv, ja. Aber jetzt muss das alles in die Lehrerausbildung integriert werden. Es ist wichtig, dass auch dort diese Art von Lernen stattfindet, sonst bleibt es quasi fiktiv.
Thomas Minder: Ich glaube auch, insgesamt ist das Thema im Bildungsbereich angekommen. Aber: In der Gesellschaft gibt es bis jetzt kein grosses Verständnis dafür. Siehe die ewige Diskussion um Selektion und Noten. Viele wollen eine klassische Schule.
Gesundheit und nachhaltige Entwicklung sind eng miteinander verbunden. Wie kann die Schule diese beiden Aspekte weiter stärken?
Édouard Gentaz: Wir brauchen erstens eine Vorbildfunktion auf institutioneller Ebene, sonst sehen die Kinder Worte, denen keine Taten folgen. Und wir müssen zweitens Programme zur nachhaltigen Entwicklung initiieren, müssen experimentieren und herausfinden, was funktioniert. Wenn ich mich zu Fuss oder mit dem Fahrrad fortbewege, geht es mir besser, und es ist gut für die Umwelt. Es entsteht eine positive Schleife. Lehrpersonen müssen aus der Forschung bekannte Programme ausprobieren, ihre Wirksamkeit messen und sie dann anpassen.
Thomas Minder: Ich finde auch, wir müssen mehr Wert auf Erfahrung und akademische Forschung legen und das anwenden, was funktioniert. In meinen Augen ist das Gefühl der Selbstwirksamkeit eine sehr wichtige Kompetenz. Es gibt zu viele Eltern, die ihrem Kind jeden Stein aus dem Weg räumen.
Aber ganz konkret, wie vermittelt man Kindern solche Fähigkeiten und Kompetenzen?
Édouard Gentaz: Man muss die Selbstständigkeit im Alltag und auch beim Lösen komplexer Probleme trainieren. Nicht nur Komplexes anbieten, um die Kinder nicht abzuhängen, aber auch nicht nur Einfaches. Denn sie werden später so oder so mit komplexen Problemen konfrontiert.
Thomas Minder: Motivation ist extrem wichtig. Wenn Kinder an persönlichen Projekten arbeiten, rund um ein Thema, das sie interessiert und zu dem sie am Ende eigene Ergebnisse präsentieren, fühlen sie sich wertgeschätzt.
Herr Gentaz, sie betreiben Forschung auf diesem Gebiet. Haben Sie konkrete Ergebnisse in Bezug auf die Verbindung zwischen Wohlbefinden und nachhaltiger Entwicklung?
Édouard Gentaz: Es gibt klare Korrelationen zwischen dem Niveau des Wohlbefindens und dem Niveau der Nachhaltigkeit. Beispielsweise ist ein Zusammenhang nachweisbar zwischen den Merkmalen einer Umgebung – ist sie verschmutzt, nicht verschmutzt usw. – und der kognitiven Entwicklung des Kindes. Aber Kausalzusammenhänge nachzuweisen, ist schwieriger, das steckt in den Anfängen. In Frankreich gibt es die ELFE-Kohorte, in der 10 000 Kinder von Geburt an begleitet werden bezüglich Ernährung, welcher Umweltverschmutzung sie ausgesetzt sind und wie sich das auf ihre geistige und körperliche Gesundheit auswirkt. Ein so grosses Sample finden wir in der Schweiz natürlich nicht.
Gibt es bezüglich Wohlbefinden von Kindern je nach Alter oder Bildungszyklus besondere Herausforderungen?
Thomas Minder: Die Bedürfnisse kleiner Kinder sind anders als diejenigen von Teenagern, klar. Und dem werden wir offenbar nicht gerecht. In der Deutschschweiz kommen in der 3. Klasse 80 % der Schülerinnen und Schüler gerne in die Schule. Aber in der 9. Klasse sind es nur noch 25 %. Das ist schon eine Herausforderung.
Édouard Gentaz: Auf dieser Stufe haben wir eine Riesenkonkurrenz, weil die Schülerinnen und Schüler Smartphones haben und damit extrem vielen Reizen ausgesetzt sind. Um dieser Konkurrenz standzuhalten, sollten wir auf Engagement und Autonomie setzen und die jungen Menschen an Projekten arbeiten lassen, die sie motivieren.
Thomas Minder: Genau, es kommt auf die Atmosphäre an. Meine Vision einer Schule ist, dass sie eher einem Wohnzimmer oder einer Küche ähnelt, dass man in der Schule so lebt, wie man zu Hause lebt.
Und was ist Ihre Vision einer Schule, die persönliches und globales Wohlergehen fördert, Herr Gentaz?
Édouard Gentaz: Meiner Meinung nach muss die Schule zwangsläufig die Eltern integrieren. Die Vorstellung, dass die Schule eine Insel ist, ist eine totale Illusion. Wenn wir weder das soziale Verhalten noch Soft Skills und auch nicht die Erwachsenen, die sich um die Kinder kümmern, miteinbeziehen, wird die Wirkung der Schule sehr gering sein.
Wie beeinflusst sich denn das Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern und Lehrpersonen gegenseitig?
Édouard Gentaz: Es geht letztlich um die Struktur, den Rahmen. Wenn Sie jeden Morgen Prüfungen ansetzen, mit Noten und einer Rangliste, wird das der Schule eine andere Tonalität geben, als wenn Sie die Schülerinnen und Schüler zu viert gemeinsam eine Aufgabe erledigen lassen. Es ist klar, dass solche Organisations- formen das Wohlbefinden aller beeinflussen.
Thomas Minder: Bei uns haben wir fast jeden Morgen Assistentinnen und Assistenten in der Schule, also eine zweite Person in der Klasse, die nicht unterrichtet und die den Schülerinnen und Schülern Aufmerksamkeit schenkt. Leider ist das keine generelle Lösung, denn das kostet viel Geld. Immerhin könnte man an eine Einbindung von Assistenzlehrpersonen denken, zum Beispiel in Form eines Praktikums während der Ausbildung.
Édouard Gentaz: Also, wenn wir unseren Studierenden einen Praktikumsplatz als Assistenzperson anbieten könnten, hätten sie einen Studentenjob und wären glücklich!
Konzepte wie «One Health» oder «Planetary Health» gehen ebenfalls von der Idee aus, dass Umwelt- und Gesundheitsfragen miteinander verbunden sind. Diese Prämisse ist also unbestritten?
Édouard Gentaz: Wie gesagt, die Korrelation besteht zweifellos. Wichtig ist: Die Menschen müssen sofort die Wirksamkeit einer Verhaltensänderung sehen. Es darf nicht theoretisch bleiben, und es darf kein Befehl sein, sonst sträuben sie sich. Es muss auf Freiwilligkeit basieren.
Thomas Minder: Ich erinnere mich an eine Kampagne von Heidiland mit Plakaten, auf denen beispielsweise ein Schlafzimmer voller Müll zu sehen war. Und darüber stand: «Was im Schlafzimmer stört, stört auch in der Gondel.» Das ist sehr anschaulich. Wie kann man geniessen, wenn die Umgebung schmutzig ist? Individuelles Wohlergehen und Umwelt hängen unmittelbar zusammen.
Dr. Édouard Gentaz ist Professor für Entwicklungspsychologie und Vizerektor der Universität Genf. Er ist in dieser Funktion zuständig für das Programm «vivre ensemble», das sich für das Wohlbefinden der Studierenden einsetzt.
Thomas Minder ist Schulleiter in Eschlikon (TG), Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH) und Stiftungsrat von éducation21. Zudem ist er Vater von drei schulpflichtigen Kindern.